Warum dieser Artikel?
Nun mal zur Abwechslung ein Thema, bei dem mir die Überzeichnung ins Satirische nicht so leicht fällt. Woran mag das liegen? Vielleicht liegt mir das Thema einfach zu sehr am Herzen, ist mir zu wichtig. Auch habe ich es selbst noch nicht ganz durchdrungen, zu Ende gedacht, verinnerlicht. Zumindest sagt mir das mein Bauch.
Schon stelle ich den Titel wieder in Frage. Müsste es nicht eigentlich «ich» statt «Sie» heissen (oder zumindest «wir»)? Aber das passt schon. Schliesslich habe ich ja schon einen gewissen Vorsprung, da ich mich schon damit befasst habe. Genug der Zweifel. Worum geht es? Es geht um Risikomanagement.
Dazu gibt es haufenweise Literatur und Standards. Um das gleich vorwegzunehmen: Was da drin steht ist prinzipiell nicht daneben. Ok.
Mit Ausnahmen.
Einige davon sind schon eher auf dem Stand der 80er-Jahre. – 1880.
Zum Beispiel die eines Autors aus der Zentralschweiz, der, abgesehen vom Stand 1880, zusätzlich auch noch fordert, Risikomanagement zugunsten von Erfolgsmanagement zu supprimieren, anstatt sich zu fragen, ob eine radikal veränderte Welt, nicht auch radikal angepasste Vorgehensweisen benötigt. Zu den wichtigsten Erkenntnissen über Risikomanagement in Projekten wird das nie aufsteigen. Und mit was? Genau. Mit Recht.
Dazu gehören schon eher die Bücher von Tom DeMarco, den ich durchaus schätze. Etliche seiner Bücher befinden sich gerade direkt hinter mir im Bücherschrank. Aber etwas Staub ist drauf. «Bärentango» ist 2003 erschienen und damit vor einer Zeit geschrieben worden, die uns in Sachen Risikomanagement demütiger gemacht hat (zumindest die Praktiker, siehe auch Zentralschweizer Autor).
Ich hatte einmal die Gelegenheit, Tom persönlich auf einer Konferenz zu erleben. Auf die Frage aus dem Publikum, welche Disziplinen des Projektmanagements er für die wichtigsten hält, antwortete er nach kurzem Nachdenken: Stakeholder- und Risikomanagement, da diese am ehesten den Umgang mit Unwägbarkeiten adressieren würden. NLP-ler benutzen meiner Beobachtung nach gerne den Begriff «interessant», wenn sie erstmal wenig mit einer Aussage anfangen können. «Interessant» dachte auch ich.
Es brauchte noch eine Weile, bis mir die Erkenntnis kam, dass Tom damit den aus seiner Sicht zentralen Zweck von Projektmanagement benannte: den Umgang mit Unwägbarkeiten.
Traditionelles Risikomanagement
Das klassische Risikomanagement unterscheidet zwischen „known unknowns“, den uns zugänglichen Projektrisiken, und den „unknown unknowns“, also den erfahrungsgemäss eher „bösen Überraschungen“. Für den Umgang mit den „known unknowns“ bietet uns die Standardliteratur bewährte und bekannte Vorgehen an. Aber wie sieht es mit den „unknown unknown“ aus? Der allseits postulierte Ansatz lautet „Monetäre Reserven auf Basis von organisations- oder branchenindividuellen Erfahrungen“, auch bekannt unter dem Begriff „management reserve“.
Der Schwarze Schwan
Aber welche Ereignisse sind in unserer Welt (und in Projekten) die wirklich verheerenden? Ereignisse die voraussehbar waren und überschaubaren Schaden angerichtet haben? Das Gegenteil ist der Fall: Sogenannte „Schwarze Schwäne“ wie 9/11, die Bankenkrise und Fukushima haben unsere Welt bis heute tiefgreifend verändert, oft von (meist) Männern, ausgebildet an hochgelobten Eliteuniversitäten, vorab als „unmöglich“ eingeschätzt bzw. nicht mal erahnt (gilt übrigens auch für einzelne Personen aus der Zentralschweiz).
Nassim Nicholas Taleb weist in seinem gleichnamigen Buch die verheerende Wirkung solcher Ereignisse nach und erklärt, warum wir so anfällig für diese Ereignisse sind: durch die unreflektierte Art und Weise, wie wir aus der Vergangenheit auf die Zukunft schliessen.
Sein wunderbares Beispiel zur Verdeutlichung ist die Geschichte vom Truthahn. Von Geburt an wird der Truthahn vom Bauern gehegt und gefüttert. Jeden Tag aufs Neue. Der Truthahn wächst und gedeiht, wird vor Krankheit bewahrt und das jeden Tag ….. bis zu Thanksgiving. Wir können annehmen, dass der Truthahn einigermassen unvorbereitet war und auch die Konsequenz des Ereignisses nicht in Betracht zog (Gibt es eigentlich in der Zentralschweiz auch Truthähne?).
Solche „Schwarze Schwäne“ führen unser Denken aufs Glatteis: Weil sie im Nachhinein erklärbar sind, rufen sie in uns den Eindruck hervor, wir hätten sie »irgendwie« vorausgeahnt (was die Untersuchungen von D. Kahnemann belegen).
Sind die allseits gängigen Ansätze zum Risikomanagement in Projekten noch zeitgemäss?
Ich meine nein.
In einer Welt, in der täglich mehr Wandel stattfindet als im gesamten 1880, ist die nahezu ausschliessliche Ausrichtung auf das Bekannte und Erlebte de facto pure Überheblichkeit, gepaart mit Ignoranz (und das gilt auch für die Zentralschweiz).
Auch iterative Ansätze wie Scrum, denen zurecht nachgesagt wird, für schnellen Wandel und hohe Komplexität besser geeignet zu sein, liefern nur teilweise konkrete Antworten. Kürzere Sprints und Transparenz über den Zustand der Lieferergebnisse sind sehr hilfreich, machen aus einem Truthahn aber noch keinen Seher.
Aber wie können wir uns in Projekten so aufstellen, dass wir besser auf „unknown unknowns“ vorbereitet sind, bzw. vielleicht sogar Positives aus ihnen schöpfen?
Hier wird es dünner, aber nicht zentralschweizmässig
Und jetzt bin ich zurück beim ersten Teil meines Beitrages und meiner Einschätzung, dies «noch nicht zu Ende gedacht» zu haben.
Patentrezepte kann ich (noch?) nicht liefern. Erstmal nur Denkanstösse, welche Veränderungen in Umgang mit Projekten und im eigenen Verhalten helfen können, Zufälligkeit nicht nur zu adressieren, sondern zu einem Verbündeten zu machen.
Derzeit wird viel über «Resilienz» als Rezept gegen Anfälligkeit gesprochen. Resilienz bzw. Robustheit bringen aber keine wirkliche Entwicklung: der resiliente Truthahn überlebt Thanksgiving auch nicht.
Und jetzt endlich ein paar konkrete Überlegungen
- Wenn erfahrungsbasierte Prognosen den Truthahn nicht vor dem Schwarzen Schwan bewahren, warum dann in diesem Kontext weiter auf Prognosen setzen? Es ist viel einfacher zu erkennen, ob eine Sache anfällig ist, als diesbezüglich Ereignisse vorherzusagen. Im Wissen um Unwägbarkeit Entscheidungen zu treffen und zu kommunizieren ist erfolgsversprechender, als nachher zu erklären, warum es schiefgehen musste.
- Was macht Systeme tatsächlich stabil? Oft sind es Schichten von Redundanzen (Überkompensation), besonders gut zu beobachten in der Natur.
Ein Beispiel: Eine Tabakart in Nordamerika kann auschliesslich durch ein ganz bestimmtes Insekt bestäubt werden, dessen Raupen blöderweise gleichzeitig der grösste Feind dieser Pflanze sind. Wird die Pflanze von dieser Raupenart angefressen (spannend woher die Pflanze weiss, dass es genau diese Raupenart ist), setzt sie Duftstoffe frei, die den grössten Fressfeind dieser Raupenart, einen Käfer, anlocken (erste Schutzschicht). Funktioniert das nicht ausreichend, formt die Pflanze ihre Blüten so um, dass dass bestäubende Insekt (das mit den Raupen), nicht mehr in die Blüten krabbeln kann und somit weiterzieht (zweite Schutzschicht). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass o.g. Duftstoff andere Gewächse der gleichen Art in der Umgebung warnt und die Blütenumformung so erfolgt, dass Kolibris den Bestäubungsjob übernehmen können. - Ein detaillierter Plan bewirkt, dass Abweichungen eher schädlich als hilfreich für die im Projekt Handelnden wahrgenommen werden. Vorausschauendes Handeln ist daher gefragt, was wiederum ziemlich prognoselastig ist. Zufälligkeit kann nicht damit beseitigt werden, dass wir versuchen Zufälligkeit zu beseitigen! Denn die Zufälligkeiten scheren sich nicht um unsere Bemühungen.
Zufälligkeit ist bis zu einem gewissen Grad der Treibstoff, denn Umwege können auch zum Ziel führen. Wird dies verbunden mit der Inkaufnahme einer gewissen Streuung bei den Lieferergebnissen, hat das schon einiges vom o.g. Tabak. - »Triff Vorsorge für das Schlimmste, das Beste erledigt sich von selbst.«, lautet ein Sprichwort. Sich mit dem Unwahrscheinlichsten zu beschäftigen, anstatt sich ausschliesslich auf Prognosen zu verlassen, hätte wohl auch den Gebrüdern Lehman geholfen.
Wenn wir uns nur gut genug umsehen, finden wir zig Beispiele für Systeme, die sich mehr als nur robust gegenüber den Schwarzen Schwänen gezeigt haben. Ich rufe auf, von diesen zu lernen. Ich fordere auf, mehr davon zu sammeln und zu überlegen, wie wir diese in Organisationen und deren Vorhaben besser integrieren können. Überall, auch ausserhalb der Zentralschweiz.